Zirkusakrobatik oder Naturlaut?
Gedanken zu den Verzierungen in Scarlattis Sonaten
Ein neues Programm, mit dem ich mich gemeinsam mit den Mitstreitern unseres Kinderprojektes laterna musica im Frühjahr 2015 intensiv auseinandersetzte, hat den Gesang der Vögel und seine „Verwertung“ in der Musik zum Thema. Schon allein die Beschäftigung mit den verschiedenen Lautäußerungen dieser fliegenden Lebensverzauberer hat meinen musikalischen Horizont ungemein erweitert. Und offenbar hatten gerade die Komponisten der Barockzeit ein besonderes Faible für die Klangwelten der Vögel. So finden sich z.B. bei französischen Komponisten wie François Couperin, Jean-Philippe Rameau, Jean-Fery Rebél, Jacques Gallot u.a. zahllose Werke, die sich mit dem Vogelgesang beschäftigen. Nun hatten die Franzosen die Angewohnheit, ihren Stücken poetische Titel zu geben („Le Rossignol en amour“, „La Poule“, „Le rappel des oiseaux“, „La colombe“), so dass sich die Inspirationsquellen des Komponisten leicht identifizieren lassen. Bei der Musik von Johann Sebastian Bach oder Domenico Scarlatti wird es da schon schwieriger. Wir befinden uns im spekulativen Bereich. Und dort, in der Welt der Ahnung, der assoziativen Fantasie, der musikalischen Bilderwelten, des „Vielleicht war es ja so, vielleicht auch anders“, also im Institut der Unwissenschaft halte ich mich als Interpret besonders gerne auf. Bediene ich mich doch ihrer als Türöffner in die Innenwelt der Musik. Also tasten wir uns ruhig weiter vor im Dämmerlicht: Scarlattis Kompositionsstil weist durchaus Ähnlichkeiten mit dem Gesang der Vögel auf: Die oft impertinente Wiederholung einzelner Motive und thematischer Zellen findet sich hier wie dort. Es wird viel repetiert, ohne dass der Hörer es als störend, als unorganisch empfindet. Es gehört einfach dazu. Als musikalisches Tableau. Und erst die Triller! Wie verschwenderisch Scarlatti oft mit ihnen umgeht, dabei aber gleichzeitig dem Interpreten wenig Freiheiten zu lassen scheint, nach Gutdünken weitere hinzuzufügen, erinnert schon sehr an das Gezwitschere der Gefiederten. Gerade im Vogelgesang finden sich die an Perfektion und Schnelligkeit nicht zu überbietenden Vorbilder für unsere oft mühsam erübten musikalischen Triller. Wie lange dauert es manchmal, bis sich eine Verzierung in die Logik einer musikalischen Phrase einfügt! Bis man einen Schatten der Brillanz einer Gartengrasmücke mit den bis zur Erschöpfung auf dem Musikinstrument geübten Bewegungsabläufen wiederzugeben imstande ist? Und dennoch: Wie wenig wird das auch nach jahrelanger Praxis zur ermüdenden Routine. Wie sehr transportiert auch ein einfacher, oft technisch-mechanisch ausgeführter Triller Transzendenz. Liegt da nicht tief in unserer genetischen Erinnerung, in den gespeicherten Biophonien unserer Vorfahren ein akustisches Abbild der Natur, das wir nicht müde werden, in unseren musikalischen Bemühungen wieder zu neuem Leben zu erwecken? Vielleicht ein Überrest der ursprünglichen Musik als Mimikry, als Bann der Natur, als Beschwörung ihrer Geister und auch einfach als Überlistung der Jagdbeute?
Christoph Ullrich, 2015
Domingo Escarlati
Manche Künstler haben nur einen einzigen Menschen gebraucht, der ihr Werk liebt und fördert, um schaffen zu können. Die Meinung vieler, gar der Menge, war für sie vollkommen irrelevant…So Domenico Scarlatti, genannt Domingo Escarlati, als er, fern der Heimat Italien erst im portugiesischen dann im spanischen „Exil“ seine unwahrscheinlichen Übungen für Hand und Hirn erfand. Da war eine, die hieß Barbara de Bragança, später Königin von Spanien, die hielt zu ihm, ihrem Klavierlehrer. „Domingo, hast Du heute schon geschrieben?“ war vermutlich ihre tägliche Frage in Sorge um ihre eigene musikalische Abwechslung und den posthumen Ruhm des Hauscembalisten. Der hatte mit dem Aufschreiben seiner fliegenden Klanggedanken allerdings erst im Alter von 52 Jahren – einem hohen Alter für einen Menschen im 18. Jahrhundert – begonnen.
Wie soll man sich sein tägliches Dasein vorstellen? Die überbordende Pracht der spanischen Königsschlösser, die unumschränkte Macht des Königshauses. Harte Absätze auf hartem Marmor in hallenden Gängen. Rauschende Seide. Cembaloklänge, fern aus in modernstem Stil – Rokoko! – renovierten Sälen. Und das Geschmeide, das Hals, Hände, Arme und Finger der Königin zierte: Überquellend auf ihrer weißen Haut, ihrem mit den Jahren immer runderen, immer mehr aus der Form geratenden Körpers. Dieses Geschmeide, das teuerste, neueste Europas, irisierend, blitzend in allen Farben, nach dem sie süchtig war wie eine Ertrinkende, geerntet auf den blutigen Feldern Südamerikas…Wie viel dieser schillernden Zauberkunst auf der Haut der Schülerin ist in den Sonaten Domingos Ton geworden?
„Domingo, die neue Sonata ist wirklich sehr schwierig. Willst Du mich ganz meinen Geschäften entfremden? Aber schön! und interessant! und verrückt! lieber Domingo.“ Sprach sie Portugiesisch mit ihm, dem einzigen Klavierlehrer seit ihren Kindestagen in Lissabon? Oder die Sprache seiner Jugend, Italienisch, das sie perfekt beherrschte? Oder in der Landessprache der spanischen Oberschicht, dem Castellano? Oder gar Französisch, der offiziellen Sprache auch des spanischen Hofes, nicht erst, seit die Bourbonen ihn – erst kürzlich – besetzten? Für sie, die polyglotte, wäre es keine Mühe gewesen, auch mit dem Thomaskantor im mütterlich wienerisch gefärbten Deutsch über Musik zu konversieren. Durfte Domingo ihr Spiel kritisieren? Wie sahen diese Klavierstunden aus? Auf welches Papier kritzelte er die nötigen Anmerkungen, Fingersätze, Artikulationszeichen? Wie ist es möglich, dass nicht ein Notenblatt mit diesen seit jeher jede Klavierstunde begleitenden Zeichen erhalten ist! Nutzten sie die Fülle der Instrumente in den Palästen? „Morgen nach dem Frühstück im blauen Salon am zweimanualigen Cembalo aus Flandern!“ – „O nein Majestät, da wird die Sonate ihre Wirkung verfehlen!“ – „Habt ihr, lieber Domingo schon das neue Pianoforte gespielt? Es ist ein wunderliches Ding mit diesen Erfindungen, die unser Jahrhundert überschwemmen. So viele Ideen der Unruhe.“
Und dann Farinelli. Wurde er bei seinen allabendlichen Arienhöhenflügen, die als besonders teures Antidepressivum dem schwer melancholischen König verabreicht wurden, hin und wieder von der Hofkapelle begleitet? Oder doch vom Hofcembalisten, von Domingo, den er sicher Domenico nannte? Wie war das Verhältnis zwischen den beiden Neapolitanern?
Zum Henker, warum hat denn da keiner ein ordentliches Tagebuch geführt! Oder wenigstens Briefe geschrieben wie Mozart, Goethe und all die, über deren Tage mehr erhalten ist als über die der meisten unserer Zeitgenossen? Wieso entzieht sich diese Gestalt, dessen eindrucksvolle Gesichtszüge und musikalisches Genie doch vielen der Gäste des spanischen Königshofes –und das waren ja hunderte im Jahr – aufgefallen ist, da er ihnen oft eine kurze Zeile des Erwähnens wert war, einer plastischen Darstellung?
Ja, Einer, der immerhin erwähnt wurde. „Ach ja, meine Gnädigste, da ist doch noch dieser Cembalist, ein Neapolitaner, feines Gesicht, wie heißt er noch?“ – Einer, der sich entzieht. Ein Eremit der Geschichte…und dabei hatte er doch ein Haus in Madrid, eine erste und nach deren Tod eine zweite Frau, wie es damals häufig vorkam, und Kinder.
Aber kein Licht, das seinen Weg bis heute erhellen könnte. Halbschatten. Unscharfe Umrisse. Verwischte Figuren. Genuschel. Türen, die sich schließen.
Nur diese sonderlichen Bewegungen der Finger und Töne, aberwitzig, neuartig, wildfröhlich, überraschend, geistreich, aus denen eine klare, unverwechselbare Stimme zu uns spricht. Ein Fingerzeig, ein Lächeln, ein Tanzschritt, ein Bonmot, ein Kichern, ein geistreiches Gespräch in Musik verpackt. Oder besser: Durch Musik ins Leben geworfen. Klang und Licht geworden. Licht durch Klang. Eines der Musikweltwunder.