Die Zeit – 13.März 2013

Leuchtende Welt
Von Mirko Weber

Allegro g-Moll, K. 8, gezählt wird nach Ralph Kirkpatrick, dem Wiederentdecker der Musik Domenico Scarlattis in den 1950er Jahren, und jetzt aber Vorsicht. Es ist, als fielen in Zeitlupe Blätter aus einer Blüte; gravitätisch und doch leicht wie nur etwas fallen sie und landen auf Akkordwatte. Schon will man auf die Wiederholungstaste drücken: Doch kann man sich das leisten, wo man erst bei den einleitenden Esercizi ist und nicht einmal bei den von Christoph Ullrich für einen Steinway D-274 adaptierten, sämtlichen Cembalosonaten Scarlattis (500 an der Zahl)? Man kann. Man muss. Also noch mal CD 1, Track 8.

Domenico Scarlatti (ein Kind des Tausendsassas Alessandro Scarlatti) wollte sich nicht musikalisch dressieren lassen, wehrte sich sogar gerichtlich gegen Bevormundungen des Vaters und emigrierte schließlich von Venedig an den Hof von Lissabon. 1728 ging er mit der spanischen Königin Maria Bárbara, seiner Schülerin, nach Madrid, wo er nichts anderes mehr schrieb als Cembalosonaten: gern von Moll nach Dur wechselnd, mit vertrackten Handkreuzungen, gespickt mit Arpeggien und folkloristischen Elementen. Domingo Escarlati, wie er sich nun nannte, war ein Musikethnologe vor der Zeit. Und ein Revolutionär. Wo die Barockmusik die representatio maiestatis anstrebte, feierte er das empfindsame, mitunter haltlose Ich und damit den modernen Menschen, der sich simultane Sinneseindrücke gestattet. Aus Scarlattis Sonaten leuchtet eine Welt, die es im 18. Jahrhundert noch gar nicht gibt.

Christoph Ullrich, Schüler von Rudolf Buchbinder, hellhöriger Schubert- und Mozart-Interpret, geht Scarlatti enzyklopädisch an, mit Nüchternheit und Formenstrenge, aber auch intuitiv. Ständig hat man das Gefühl, dass Ullrich selber gespannt ist, welches Geheimnis die nächste Sonate wohl birgt. Anders als Horowitz, der den Stücken ihre innere Exzentrik ablauschte, oder Christian Zacharias, der sie vom Ruch des nur Glamourösen befreite, wartet Ullrich auf den Moment, in dem die Musik zu schweben beginnt: als sei sie eins und doppelt, Goethes Ginkgo-Biloba-Blatt gleich.

Da verspricht auch und gerade die Langstrecke zum Ereignis zu werden. Ist es schon. Und bis zur neuen Lieferung noch einmal das Allegro in g-Moll, K. 8.: Repeat!

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